Ich stand im Büro auf einer Trittleiter und staubte das Regal mit den Andenken ab. Liebevoll strich ich über die kleinen Kostbarkeiten, bevor ich sie zur Seite nahm, um mit dem Staubwedel über die Glasflächen zu fahren. Da war die kleine Drehorgel, die »Für Elise« spielte, wenn man an der Kurbel drehte. Mein Bruder hatte sie mir als Kind geschenkt. Sie funktionierte auch nach Jahrzehnten noch. Ein Bild meiner Mama, daneben eine Flasche Kölnisch Wasser. Ein verwaistes Hundehalsband rief Schwermut hervor, eilig legte ich es wieder hin.
Und ein Herrenhut aus Filz, darunter ein rot eingebundenes Buch. Ich legte den Staubwedel zur Seite, nahm es vorsichtig herunter und schlug es andächtig auf. »Erinnerungen«, stand lapidar darüber. »Meinem lieben Bienchen in herzlicher Zuneigung.« Eine zackige, ungelenke Handschrift mit starken Anlehnungen an die alte Schriftart Sütterlin. Wie sehr ich meinen Papa vermisste.
Schon lange hatte ich das Büchlein nicht mehr in die Hand genommen. Ich blätterte weiter. Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme meines Vaters in jungen Jahren. Dahinter eine Zeichnung meiner Schwester, die einen Engel darstellte, der schützend die Hand über meinen Vater hielt, Augen und Mund erschrocken aufgerissen, die Haare senkrecht in der Luft stehend. Ich musste grinsen. Der Humor meines Vaters war unübertroffen.
Die nächsten Seiten zeigten Bilder meiner Ahnen. Eine Gruppe, dicht beisammen aufgestellt zwischen den hohen Tomaten- und Bohnenpflanzen im Schrebergarten. Die meisten habe ich niemals kennengelernt. Meine Großmutter in jungen Jahren, in einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid und mit strengem Dutt. Dann Papa mit seinem Bruder vor dem Hauseingang der Mietwohnung. Mein Onkel hatte sein Leben im Zweiten Weltkrieg verloren. Mein Opa in der Schneiderwerkstatt, Papa in der Lehre bei einem Textilverkäufer namens Gauer in Landau. Ich musste wieder einmal lachen. Die ganze Bande musste während der Bombenangriffe im Keller bleiben. Um sich die Zeit zu vertreiben, stellten sie sich für Fotos in Pose, in Turbane und Umhänge gehüllt und in Kampfpose aufgestellt wie die heutigen Taliban. Welch skurriler Einfall. Das Geschäft existierte vor einigen Jahren noch, und Papa hat ihnen die Fotos überlassen. In Uniform am Bahnhof. Winzige, unscharfe Bilder vom Reichsarbeitsdienst. Ich las mich wieder einmal fest.
Ach ja, die Geschichte mit den Gardinen. Die war lustig. Ich begann zu lesen.
… Im Februar 1941 wurde ich zum R.A.D. (Reichsarbeitsdienst) nach Zweibrücken-Ixheim eingezogen.
Mir schmeckte es gar nicht, mit dem Spaten »Griffe zu kloppen« oder an der deutsch-französischen Grenze überflüssig gewordene Erdbunker auszubuddeln. Ich war deshalb richtig begeistert, als eines Tages beim Frühappell der Feldmeister fragte, wer etwas von Gardinen verstünde. Ich meldete mich. Aber da ich mich durch unmilitärisches Benehmen nicht gerade bei meinen Vorgesetzten beliebt gemacht hatte, wollten sie jemand anderen. Zu ihrem Ärger meldete sich aber niemand. (Ich hatte auf eine Frage des Truppführers statt mit dem üblichen »jawohl« mit »selbstredend« geantwortet, was diesen zu einem Wutausbruch veranlasste.)
Wir standen neben der Freiwaschanlage und er befahl mir, so lange um diese herumzulaufen, bis ich umfiele. Nach einer halben Umrundung »fiel ich um«. Das wollte er sich natürlich nicht gefallen lassen. Er drehte einen der Wasserhähne an der Waschanlage auf und versuchte durch Darunterhalten der Hand den Wasserstrahl in meine Richtung zu lenken. Das Manöver ging aber gründlich daneben, weil in diesem Moment der Feldmeister, von dem Truppführer in seiner Rage unbemerkt, des Weges kam und eine Dusche abkriegte.
Während der Truppführer »abgeputzt« wurde, machte ich mich aus dem Staube.
Ein weiterer Vorfall trug auch nicht zu meinem Ansehen bei: Ich verletzte mich an der rechten Hand, wollte aber meinen Eltern einen Brief schreiben. Ich entsann mich der Fähigkeit, als geborener Linkshänder in der Schule zunächst in Spiegelschrift von rechts nach links geschrieben zu haben. Ich schrieb also meinen Brief in besagter Manier. Alle Briefe wurden damals geöffnet bzw. mussten offen abgegeben werden. Ich wurde auf die Schreibstube befohlen, wo man mich in barschem Ton fragte, wieso ich in Geheimschrift schreibe und was in dem Brief stünde.
Ich bat die Vorgesetzten, den Brief in den Spiegel zu halten, wo sie sich von der Harmlosigkeit des Inhalts überzeugen konnten. Die Herren fühlten sich veralbert und ich hatte wieder eine Portion Minuspunkte weg, und sie hatten mich endgültig »auf der Latte«.
Nun, wenn man den Hund hauen will, findet man auch einen Stock. Worin dieser diesmal bestand, weiß ich nicht mehr. Es spielte im Grunde auch keine Rolle. Jedenfalls wurde ich dazu verdonnert, am Sonntag die Jauchegrube zu leeren. Das geschah mittels eines Blechgefäßes an einer langen Stange, dessen Inhalt in zwei Eimer entleert wurde, die danach in den Garten zu tragen waren. Ich war gerade wieder mit meinen vollen Eimern unterwegs, als mir die gesamte Führerschaft des Lagers entgegenkam, in ihrer Mitte ein dicker Mann in hervorstechender Uniform.
Mein Gardinen-Auftraggeber hatte sich ausgerechnet an diesem Sonntag entschlossen, unserer Abteilung einen Besuch abzustatten. Es wäre für mich ein Leichtes gewesen, irgendwo zwischen den Baracken zu verschwinden. Stattdessen ging ich mit je einem Eimer an der Hand auf der Lagerstraße dem Trupp entgegen. Beim Vorbeigehen (in strammer Haltung und vorgeschriebener Blickrichtung) schnüffelte der Dicke (ich habe seinen Dienstgrad vergessen) in der Luft und fragte mich, was ich da mache. Ich antwortete: »Jauchegrube leeren«. Er sagte: »Aber doch nicht am Sonntag!« Dann erkannte er mich. »Sie sind doch der, der bei mir die Gardinen macht! Waschen Sie sich und ziehen Sie sich um!« (Die Ausgangs-Uniform des R.A.D. war nicht besonders attraktiv. Besonders scheußlich fanden wir die Kopfbedeckung, ein Mittelding aus Hut und Mütze mit einer Mittelfurche auf dem Scheitelpunkt, vorn ein Schild. Wir nannten das Gebilde verächtlich »Arsch mit Griff«.) Damit ging die Gruppe weiter.
Ich folgte schleunigst dem »Befehl« und ging danach in die Stadt. Bei meiner Heimkehr stand der Truppführer bereits an der Lagertür und erwartete mich. Außer Drohungen passierte jedoch nichts, da er wusste, dass ich am nächsten Tag wieder bei meinem »Arbeitgeber« sein würde und Gelegenheit zum »Petzen« hätte.
Zur Herstellung besagter Gardinen wäre noch folgendes zu sagen: Nach Klärung der Adresse marschierte ich zu der Villa in der Nähe des Pferde-Rennplatzes und meldete mich bei dem »Dicken« (ich werde ihn weiter so nennen, da ich weder Dienstgrad noch Namen in Erinnerung behalten habe).
Das Dienstzimmer des Mannes war ein trister Raum, wenige Möbel, Schreibtisch, Stuhl, Schrank, drei hohe kahle Fenster. Er wollte »Vorhänge«. Ich plädierte für Stores und Übergardinen. Er sagte einfach: »Machen Sie!« Also trabte ich erst mal los zu einem Gardinengeschäft in der Stadt. Dort ließ ich mir Muster geben. Zurück, ließ ich den Dicken die Auswahl treffen und machte ihn darauf aufmerksam, dass er einen sog. »Bezugsschein« besorgen müsse, da ich sonst die Stoffe nicht bekäme. Damit war meine Tätigkeit am ersten Tag bereits beendet. Ich bummelte noch ein wenig in der Stadt, um zum Dienstschluss im Lager einzutreffen. Auf die Frage des Zugführers (es gab damals jede Menge »Führer« vom einfachen Gruppenführer bis zum »Gröfaz«, dem größten Feldherrn aller Zeiten) konnte ich keinen präzisen Zeitpunkt nennen, da das von der Arbeit des Gardinengeschäfts abhinge.
Am nächsten Tag gab ich dort die geforderten Bezugsscheine und die Maße für die Gardinen ab mit der Bemerkung, dass es nicht so pressant sei. Nach Tagen fiel mir auf, dass Gardinenstangen zum Aufhängen fehlten. Also ausmessen, im Geschäft bestellen (es eilt nicht so!). Als nach längerer Zeit die Gardinen endlich an den Fenstern hingen, tat es mir leid um den schönen Job. Schließlich konnte ich den »Dicken« überreden, zum Schutz der schönen Gardinen vor den sengenden Sonnenstrahlen noch Sonnenrollos anzubringen. Das brachte noch ein paar Tage, aber dann war endgültig Schluss. Ich dachte manchmal: Wenn wir bei Gauer so gearbeitet hätten, wäre die Firma längst pleite …
Lächelnd schlug ich das Buch wieder zu und legte es zurück an seinen Platz unter dem Hut. Meine Laune hatte sich erheblich gebessert und ich fuhr mit meinem Staubwedel fort.
Eine sehr schöne Geschichte von Sabine Veit. Da könnte man in Zukunft mehr davon lesen wollen.,
Oh, vielen Dank. Das Lob gebührt meinem Papa!
Ich habe weitere Geschichten von ihm, von denen ich gerne welche einstelle.