Ihr könnt nicht nur nachlesen, sondern euch auch vorlesen lassen.
Vorlesen lassen:
Und falls ihr es doch lieber lesen wollt:
Der Sturm heulte um Gabis Auto, drückte den kleinen Wagen zur Seite und ließ ihn auf der nassen Straße tanzen wie ein Blatt im Wind. Sie presste die Lippen aufeinander. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte sie das Lenkrad.
Wer war auch so blöd, bei diesem Unwetter durch die Gegend zu gondeln?
Aber ihre Mutter hatte sich am Telefon so verzweifelt angehört. Vom Sturm hatte sie gestammelt und dass etwas passiert sei. Mehr war zwischen ihren Schluchzern nicht zu verstehen. Endlich, das alte Bruchsteinhaus kam in Sicht. Gabi stellte den Wagen am Straßenrand ab, zerrte ihre Kapuze über den Kopf und stieg aus. Regen peitschte ihr entgegen. Geduckt rannte sie zur Haustür und klingelte. Diese öffnete sich einen Spalt und das blasse Gesicht ihrer Mutter erschien darin.
Ihre Augenbrauen zuckten nach oben. »Gabi? Du meine Güte, bei dem Wetter fährst du durch die Gegend?« Elisabeth riss die Tür auf. »Schnell, komm rein.«
Nur zu gerne kam Gabi dieser Aufforderung nach. »Mensch Mutti, ich habe mir große Sorgen um dich gemacht. Was ist denn passiert?«
Ein tiefer Seufzer entfuhr ihrer Kehle. »Es ist furchtbar. Komm mit.« Sie durchquerte das Wohnzimmer, blieb an der Terrassentür stehen und deutete hinaus. Ihre Hand zitterte.
Suchend glitt Gabis Blick über den kleinen Garten. Der Sturm zerrte an den Rhododendron-Büschen und drückte die langen Halme der Mohnblumen nieder. Dann sah sie den Zwetschgenbaum. Bizarr ragten seine kahlen Äste gegen den Himmel. Längst dominierte er den Garten nicht mehr, aber jetzt war er im wahrsten Sinne des Wortes gebrochen. Die Hälfte seiner Krone lag vor seinem Stamm im Gras.
Gabi schüttelte den Kopf. »Das ist also das große Unglück? Meine Güte und ich hatte solche Angst um dich.«
Die Haustür fiel ins Schloss und es näherten sich eilige Schritte. »Mama?«
Gabi schmunzelte. Ihren Bruder hatte sie also auch angerufen.
»Was ist denn passiert?« Pitschnass stand Lothar vor ihnen. Einige Strähnen seiner schwarzen Haare klebten an seiner Stirn. Diese zog er in Falten und sah fragend in die Runde.
»Mein Baum!« Erneut wurde Elisabeth von Weinkrämpfen geschüttelt.
Lothar trat ans Fenster. »Oh je, jetzt ist es passiert.« Er wandte sich seiner Mutter zu und nahm sie in den Arm. »Aber Mama, ich habe schon so oft gesagt, dass es Zeit ist, den Baum zu schlagen. Seine Krone ist durch und durch morsch. Ich dachte, es wäre etwas Schlimmes passiert.«
Elisabeth löste sich aus der Umarmung und sah zu ihm auf. »Aber das ist doch schlimm! Du ahnst nicht, was er mir bedeutet!«
»Doch, ich weiß, dass du oft in seinem Schatten gesessen hast. Aber schau mal, es ist das dritte Jahr, dass er kaum noch Blätter trägt.«
Elisabeth starrte auf die kläglichen Reste des einst so majestätischen Baumes und nickte. »Wisst ihr, als junges Mädchen habe ich sehr viele Stunden im Garten meiner Eltern verbracht. Ich habe es geliebt, die Beete zu pflegen oder auf der Wiese unter den Bäumen zu sitzen. Als ich euren Vater geheiratet habe und hierhergezogen bin, wollte ich so gerne etwas von dem Garten mitnehmen. Euer Opa grub einen jungen Zwetschgenbaum aus und schenkte ihn mir.« Ihr Gesicht bekam einen entrückten Ausdruck. »Er wuchs zu einem prächtigen Baum heran. Wenn ich unter seinen Zweigen sitze, spüre ich eine tiefe Verbindung. Dann schließe ich die Augen und sehe den Garten meiner Eltern vor mir. Dessen Duft nach Kräutern und blühenden Rosen ist so präsent, als säße ich mittendrin.« Sie seufzte. »Und nun?«
Gabi legte den Arm um ihre Schulter. »Ich verstehe sehr gut, dass es schmerzlich für dich ist, aber wir können es nicht länger hinauszögern die morschen Reste zu entfernen.«
Elisabeth sah sie traurig an. »Er wird mir sehr fehlen.«
Zum Glück war das Wetter heute besser und der Sturm von letzter Woche vergessen. Gabi wandte den Blick von dem strahlend blauen Himmel ab und deckte den Kaffeetisch auf der Terrasse ihrer Mutter ein. In dessen Mitte platzierte sie eine Geburtstagstorte.
Lothar und ihre Mutter kamen auf die Terrasse und nahmen Platz. Gabi wandte sich ihnen zu.
Elisabeths Blick huschte über den Tisch. »Deine Torte sieht so lecker aus und wie schön du den Tisch gedeckt hast. Vielen Dank.« Die blauen Augen ihrer Mutter strahlten sie an.
Lothar erhob sich. »Moment, ich habe ein Geburtstagsgeschenk für dich.« Er eilte Richtung Flur und kam einen Augenblick später zurück. In seinen Armen hielt er eine Holzsäule. Diese stellte er vor Elisabeth ab. Die Säule reichte ihm bis knapp über die Knie. Jetzt erkannte Gabi, dass es eine Lampe war. Das obere Drittel war komplett ausgehöhlt. Darin befand sich eine Glühbirne. Seitlich hing ein Kabel herab.
»Und jetzt.« Lothar steckte den Stecker in die Steckdose neben der Terrassentür und betätigte den Schalter an der Seite. Das Licht flackerte wie eine Kerze.
Ihre Mutter schlug die Hände vors Gesicht. »Oh, sie ist wunderschön.« Sie erhob sich und umarmte Lothar.
Dieser löste sich sanft aus der Umarmung und schaute ihr in die Augen. »Und sie ist etwas ganz Besonderes. Ich habe sie aus dem Stamm des Zwetschgenbaumes gefertigt.«
»Nein!« Elisabeth strahlte. »Was für eine schöne Idee.« Sie strich über das geölte Holz, schloss die Augen und atmete tief
ein. »Oh ja, ich kann ihn spüren.« Ein seliges Lächeln lag auf ihrem Gesicht.