Hermine beobachtet den Hochzeitsflug der Waldameisenkönigin

Von Iris Bandner

Die Sonne steht hoch am Himmel, es liegt eine eigenartige, spannungsgeladene Stimmung in der Luft. Ein leichter Wind rauscht durch die Blätterkronen der Bäume. Irgendetwas ist heute anders. Hermine hebt träge ihren schweren Kopf und beobachtet den Himmel über sich.

Ein Summen und Sirren erfüllt den erwachenden Wald. Da sieht es auch Hermine. Hunderte von geflügelten Wesen tanzen eine eigene Choreographie am wolkenlosen Morgenhimmel. Hermine schaut genauer hin und erkennt viele fliegende Ameisen. Das hat sie bisher noch nicht gesehen. Sie hat aber gehört, dass dieses ein seltenes Schauspiel ist, welches die jungen Ameisenköniginnen vollführen. Das findet nur einmal im Jahr statt und dauert in der Regel nur 2 bis 3 Tage. Dann ist der Spuk vorbei.

Es ist der Hochzeitflug der Ameisenköniginnen. Jede Königin tanzt ihn nur einmal in ihrem Leben. In dieser Zeit lässt sie sich von mehreren Drohnen, so nennt man die männlichen Ameisen, befruchten. Sie sammelt Millionen von Spermien, die sie über die Dauer ihres Lebens in ihrem Körper aufbewahrt, um sie zur gegebenen Zeit zu nutzen.

So ein Waldameisenköniginnenleben kann durchaus 20 Jahre dauern. Die Drohnen selbst sterben nach der Paarung und werden von den Arbeiterinnen aufgesammelt und in den Ameisenbau transportiert. So eine Ameise kann bis zum 40fachen ihres Eigengewichtes tragen.

Sind die Drohnen dann ins Nest verfrachtet, dienen sie als Nahrung für die Arbeiterinnen, Soldatinnen und Wächterinnen. So eine Arbeiterin lebt ca. 5 bis 6 Jahre. Stirbt eine normale Ameise, wird sie von den verbleibenden Bewohnerinnen aufgesammelt und auf einem speziellen Ameisenfriedhof abgelegt. Das dient der eigen Sicherheit, damit keine Pilze und Bakterien, die durch den Zersetzungsprozess entstehen, den Ameisenbau verseuchen.

Nun ist Hermine doch sehr gespannt und hofft, dass sich die Königin, die den Ameisenstaat in ihrer Nähe regieren wird, bei ihr vorstellt. Denn ist sie erst mal in ihrem Bau, verlässt sie ihn bis zu ihrem Tode nicht mehr. So ein Ameisenstaat ist sehr sozial organisiert und kann bis zum 100 Millionen Bewohnerinnen beherbergen. Wie man den Schilderungen entnehmen kann, gilt hier die Staatsform des Matriarchats. D.h. ein reiner Frauenstaat.

Und tatsächlich setzt sich Anneli, so heißt die neue Königin, des Ameisenhügels, ganz in der Nähe von Hermine in die Sonne. So eine Begattung mit mehreren Drohnen ist offensichtlich sehr anstrengend oder sie will nochmal kurz ihre kleine Freiheit genießen.

Ihre einzige Lebensaufgabe wird es zukünftig sein, Eier zu legen, die von den Arbeiterinnen gehegt, gepflegt und gefüttert werden. Nach ca. 10 Tagen schlüpfen die Larven und nach ca. 34 Tagen gibt es eine neue Generation von Arbeiterinnen, Wächterinnen und Soldatinnen. Je nach dem welcher Bedarf für den Fortbestand des Ameisenstaates von Nöten ist.

Ameisen bevölkern schon seit 100 Millionen Jahren diese Erde. Also wesentlich länger als die Spezies Mensch. Seit ca. 200 Jahren stehen sie in Deutschland unter Naturschutz, denn man hat erkannt, wie wichtig die kleinen, quirligen, fleißigen Insekten auch für das Überleben der Natur und der Menschheit sind.

Nun schaut Anneli zu Hermine. Hermine hat den Eindruck, dass sich ein kleiner, trauriger Augenblick auf dem kleinen Gesicht der Ameisenkönigin zeigt. Bald fallen ihre Flügel ab und sie wird ausschließlich ihre Lebensaufgabe erfüllen. Auch Hermine wird erfüllt von einem kurzen Moment der Wehmut. So muss halt auch jeder auf der Erde seine Aufgaben erfüllen.

Anneli dreht sich um, faltet noch einmal ihre Flügel zu ihrem letzten Flug auseinander und fliegt Richtung Ameisenhügel, wo sie zugleich von ihren Arbeiterinnen empfangen wird. Dort wartet auch schon ihre Höhle und sie wird nun ununterbrochen gefüttert und muss ihre Lebensaufgabe erfüllen. Eier legen tagein tagaus.

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