Von unserer Autorin Rita Guthsmuts stammt dieser schöne Geschichte:
Vor einiger Zeit stand ich in unserer Stube, um zu bügeln, dabei hörte ich Radio. Da lief das
Lied von der verstorbenen Alexandra. Darin besingt sie einen Baum und ihre Freundschaft
dazu. Mein Freund der Baum ist tot, er starb im frühen Morgenrot.
Da musste ich an den Baum denken, eine Trauerweide. Auch sie hätte beinahe das gleiche
Schicksal ereilt. Aber Gott sei Dank hatte ich rechtzeitig die Initiative ergriffen, so dass sie
auch heute noch, zwölf Jahre später, gesund am gleichen Platz steht.
Sie stand schon, seit ich denken konnte, ganz hinten auf dem Grundstück meiner Tante. Die
Äste hingen bis auf den Boden und boten ein gutes Versteck für ein Kind wie mich. Auch sie
wurde im Laufe meines Lebens zu einer Freundin für mich.
Oft, wenn ich Kummer hatte, lief ich auf das Grundstück und kletterte auf diesen Baum. Hier
konnte ich, da die Äste ziemlich bis zum Boden reichten, leicht hochklettern und saß dort in
einer Astgabel recht bequem. Unter den Ästen konnte ich mich auch gut verstecken, wenn ich mal wieder
ausgeschimpft wurde.
Meine Eltern waren in der Planung für Großprojekte wie Brücken, große Einkaufscentren und dergleichen
tätig und mussten beide auswärts arbeiten. Des öfteren mussten sie auch wegen
eines Projektes ins Ausland, so dass ich nicht nur in der Woche, sondern auch mal einige
Monate bei einer alten, miesepetrigen Tante leben musste. Sie hatte ständig was an mir
auszusetzen. Ich verstand sie nicht und hatte das Gefühl, dass sie mich nur notgedrungen
beaufsichtigte und beherbergte. Großeltern gab es leider nicht, bei denen ich bleiben konnte.
Deshalb lief ich oft zu dieser Weide und klagte ihr mein Leid. Ich fühlte mich falsch
verstanden und vermisste die Liebe meiner Eltern. Stundenlang konnte ich dort im Baum
sitzen und hörte den Wind in den Blättern rauschen und die Vögel in den Ästen singen. Aber
ich glaubte damals, man vermisse mich auch nicht!
Als ich zur Schule ging und schreiben konnte, hatte ich die meiste Zeit, wenn ich mal wieder
unter dem Baum saß, mein Tagebuch dabei, in das ich meine Gedanken hineinschrieb. Ich
erzählte auch der Trauerweide, wenn ich Kummer hatte. Wenn ich eine
schlechte Note in der Schule bekommen hatte, oder ich wurde mal wieder gehänselt wegen
meiner Kleidung. Oftmals legte ich meinen Arm um seinen Stamm und hatte dann das
Gefühl, er spräche mit mir. Wenn der Wind in den Blättern raschelte, war es, wie wenn er mir
damit sagen wollte, bringe deinen Kummer nur zu mir, ich helfe dir. Was er auch tat, wenn
ich in oder unter der Trauerweide saß, hing ich meinen Gedanken nach und konnte davon
träumen, wie schön es wäre, wenn ich bei meinen Eltern leben könnte.
Mit 16 Jahren war ich aber schon so gewachsen, dass ich nicht mehr in der Astgabel sitzen
konnte, sie wurde zu klein, aber ich konnte mich darunter setzen. In diesem Alter lernte ich
meinen ersten Freund kennen, welcher mich nach einer vierwöchigen Romanze wegen einer
Schulkameradin sitzen ließ. Ach wie schrecklich war das damals. Meine erste Liebe war
dahin. Niemand konnte ich meinen Liebeskummer klagen. Aber unsere Trauerweide hörte
mir immer zu, wenn ich weinte. Meine Eltern waren nicht da, und meine Tante wurde von
Jahr zu Jahr griesgrämiger. Ihr konnte ich überhaupt nichts davon erzählen, sie war zu sehr
mit sich selbst beschäftigt. Doch in diesem Sommer hatte meine Trauerweide ein nicht so
üppiges und auch viel gelbes Laub. An Ihrer Rinde waren Risse erkennbar, aus denen der Saft
herauslief. Das war nicht gut! Sie war krank! Gerne hätte ich was dagegen getan, aber wen
sollte ich fragen? Meine Tante jedenfalls nicht. Meine Angst war, dass sie den Baum dann
einfach fällen lassen würde. Ich überlegte hin und her. Da fiel mir ein Junge ein, der in einer
nahegelegenen Gärtnerei eine Lehre machte. Vielleicht hatte ja er eine Ahnung was mit
meinem Baum passierte.
Also nahm ich mir ein Herz und lief zur Gärtnerei. Ich hatte Glück, der Junge stand gerade
draußen am Kompost mit einem Eimer, den er leerte. Eigentlich traute ich mich nicht, ihn
anzusprechen, aber dann dachte ich wieder daran, dass ich meinem Baum ja helfen wollte.
Er hatte bereits bemerkt, dass ich dort stand und zu ihm starrte. Da sprach er mich
plötzlich an: “He du, dich kenn ich doch , du wohnst doch in dem Haus mit dem Wetterhahn
auf dem Giebel, welches auf der rechten Seite zweihundert Meter von hier steht? Ich nickte,
sprechen konnte ich nicht. „Suchst du was oder wen?“ fragte er. Jetzt musste ich wohl
antworten. „Ja“, meinte ich „zu dir wollte ich eigentlich, vielleicht kannst du mir helfen. Du
arbeitest doch in der Gärtnerei und weißt gut über Pflanzen Bescheid. Sicherlich ist dir
bekannt, dass sich ein großes Grundstück an dieses Haus anschließt. Da steht eine große
Trauerweide und sie sieht so krank aus. Kannst du sie dir nicht einmal ansehen?“
Erst dachte ich „Jetzt lacht er mich bestimmt aus“, aber er sah mich nur nachdenklich an und
meinte dann „Ist es dir recht, wenn ich nach Feierabend mal vorbeikomme, um zu schauen?“.
Sehr erleichtert bejahte ich es.
Wie versprochen stand er zwei Stunden später vor unserer Haustür. Ich hatte schon ganz
ungeduldig gewartet, um zu öffnen. Meine Tante sollte davon nichts mitbekommen. Sie hätte
ihn bestimmt gleich wieder weggeschickt. Das wollte ich unbedingt verhindern. Ich ließ ihn
zur Tür herein und wir gingen sofort weiter in den Garten.
Dort betrachtete er sich den Baum von allen Seiten, nahm eine Bodenprobe, kratzte etwas
vom Stamm ab und meinte dann „Ich kann dir nicht sagen, was los ist, aber ich werde
meinen Chef fragen und mich wieder bei dir melden.“ Dann ging er weg.
Mein Herz schlug mir bis in den Hals vor Angst, er könnte es nur so dahingesagt haben, wie
so viele Erwachsene es taten. Doch wie versprochen rief er an und fragte ob er nochmal nach Feierabend vorbeikommen könnte. Meine Freude war groß, war er doch der erste, wenn auch noch nicht so ganz Erwachsene, der mich ernst genommen hatte.
Als er kam, erklärte er mir “Ich habe meinen Chef befragt und ihm auch die
mitgenommenen Proben gezeigt. Nach einer eingehenden Untersuchung meinte er dann,
dass der Baum an einem Pilzbefall leiden würde, und man müsste ein Konzentrat wöchentlich auf die Rinde auftragen. Dann müsste der Baum wieder genesen.“
Vor lauter Freude fiel ich ihm um den Hals. Als ich merkte, was ich getan hatte, wurde ich ganz
verlegen, aber ihm schien es gefallen zu haben. Er fragt mich, ob es mir recht sei, wenn er das
für mich übernehmen würde. Darüber war ich sehr froh, denn er gefiel mir sehr, das würde
dann bedeuten, dass ich ihn zweimal in der Woche sehen konnte.
Die Behandlung des Baumes dauerte ungefähr vier Monate. In dieser Zeit kamen wir uns
immer näher und verliebten uns ineinander. Heute sind wir ein Ehepaar, haben zwei Kinder, ein
Mädchen von acht Jahren und einen Jungen von sechs Jahren. Und auch diese laufen immer wieder zu
unserem Baum, um dort zu spielen und sich zu verstecken. Meine Tante ist leider verstorben,
aber sie hat uns ihr Haus überschrieben, in dem ich die meiste Zeit meiner Jugend verbracht
hatte. Heute ist mir auch schmerzlich klar, dass sie damals nicht miesepetrig, sondern krank
war und Schmerzen hatte. Aber als Kind oder Jugendliche wusste ich es nicht. Leider.
Da höre ich, wie die Tür zur Stube aufgeht und eine Stimme sagt : „Aha das Lied, sicherlich
denkst du gerade an unseren Baum.“ Mein Mann hat seine Arme um mich gelegt und gibt
mir einen Kuss. Und ich muss daran denken, dass ich durch den Baum, heute unseren Baum,
meine große Liebe kennen gelernt habe.
Danke lieber Baum. So lange es möglich ist, wirst Du nicht im frühen Morgenrot sterben.